DAS ERDGESCHOSS NUTZEN UND WERT SCHAFFEN
Heute in der U-Bahn habe ich zur Abwechslung nicht auf mein Handy gestarrt, sondern in die Luft – und dabei ein Gedankenexperiment in meinem Kopf durchgespielt.
Was wäre, wenn wir die gründerzeitliche Stadt in das 21. Jahrhundert retten könnten? Wenn der Straßenraum wieder ein lebendiger Teil der Stadt werden würde? Wenn das Erdgeschoß wieder für das Arbeiten geöffnet werden würde?
Wir würden nicht an einer endlosen Reihe von Garagenausfahrten vorbeigehen. Wir würden nicht an verlassenen, verstaubten Portalen vorbeigehen, beklebt mit Resten von Veranstaltungsplakaten und die Tore beschmiert mit Grafittis. Wir würden wertvolle Flächen im Erdgeschoß nicht Callshops und 1€-Shops überlassen.
Warum das Erdgeschoß wertvoll für alle ist
Wir hätten das Gefühl, dass unsere Stadt lebt. Wir hätten einen Ort der zufälligen, ungeplanten Kommunikation zurückerobert. Wir hätten kurze Wege, Stadtviertel mit durchmischten Nutzungen und eine Stadt in Bewegung. Wir hätten wahre Urbanität und gleichzeitig das Dorf in der Stadt.
Wir wüssten zum Beispiel, dass drei Häuser weiter eine Steuerberaterin ihre Kanzlei hat. Wir wüssten, dass sie eine sympathische Frau ist, dass ihre Kanzleiräumlichkeiten eine angenehme Atmosphäre haben – offen, aber trotzdem vertraulich. Wir wüssten, dass sie manchmal konzentriert bis spät abends noch in ihrer Kanzlei sitzt, weil noch alle Umsatzsteuererklärungen ihrer Klienten rechtzeitig fertig werden müssen. (Wir würden uns daraufhin auch am Riemen reißen und unsere eigenen Unterlagen beim nächsten Mal nicht im letzten Moment vorbeibringen.)
Wir hätten auch zufällig bemerkt, dass der Unternehmensberater in der Querstraße jeden zweiten Donnerstag seine Räumlichkeiten für Seminare zur Verfügung stellt. Wir würden uns vielleicht entschließen, unseren Horizont wieder einmal ein bisschen zu erweitern und uns für ein Seminar anmelden. Es wäre ja schließlich kein großer Aufwand, gleich um die Ecke.
Im Vorbeigehen würden wir auch sehen, dass eine Software-Spezialistin VBA-Lösungen für Office-Anwendungen entwickelt. Uns würde einfallen, dass genau sie uns die Lösung für das Problem, das uns schon lange unter den Nägeln brennt, anbieten könnte. Wir würden vielleicht wochenlang an ihrem Büro vorbeigehen und uns irgendwann, wenn der Leidensdruck groß genug geworden ist, kurzerhand entschließen, schnell vorbeizuschauen und sie um ein Angebot bitten.
Das nette Café, das seit Jahren tapfer ums Überleben kämpft, hätte plötzlich regen Zustrom. Morgens von jenen, die am Weg zur Arbeit noch schnell einen Kaffee an der Bar trinken. Mittags von jenen, denen zwei Hauptspeisen als Auswahl reichen, weil sie ein frisch gekochtes Essen, das sofort am Tisch steht, einer großen Speisekarte vorziehen. Und zwischendurch würden wir abends noch kurz vorbeischauen, auf einen Drink, und den Tag Revue passieren lassen.
Sichtbar werden und Wert schaffen
Arbeit würde sichtbar werden. Die Leistungen, die so viele in unserer nahen Umgebung erbringen, würden sichtbar werden. Unternehmen würden zeigen, was sie ausmacht, was das Besondere an ihnen ist. Und das alles nicht digital, online, virtuell – sie würden es im wahren Leben zeigen. Sichtbarkeit würde nicht auf SEO reduziert werden.
Unser Viertel würde aufleben, Charakter haben und der Raum zwischen den Häusern wieder ein echter Raum werden, nicht bloß eine Restfläche, um schnell von A nach B zu gelangen. Eigentümer würden in die Sanierung der Erdgeschoßlokale investieren, weil sie wüssten, dass damit auch der Wert der Wohnungen in den oberen Geschoßen steigt. Unsere introvertierte Stadt würde sich ein bisschen öffnen, zeigen wer sie ist und was sie kann.
Eine Utopie, finden Sie? Schade eigentlich. Wenn wir nur alle ein bisschen mehr Mut hätten.
Find ich eine hervorragende Idee. Eigentlich hätt ich (Software-Spezialistin, die VBA-Lösungen für Office-Anwendungen entwickelt – wirklich!) gern mein Büro und meinen Seminarraum (ja, ich mach auch Seminare) in einem „Gassenlokal“. In meinem Grätzel stehen viele davon leer, die Plakatverpickerei ist alltäglicher Anblick. Gleichzeitig kosten die an Miete so viel mehr als mein jetziges Büro, und sind so renovierungsbedürftig, dass ich davor zurückschrecke.
Also: wir müssten uns in der Mitte treffen, die HausbesitzerInnen und ich. Wie kann das bewerkstelligt werden?
Katharina, vielen Dank für deinen Kommentar.
In der Tat haben Eigentümer oft wenig Motivation, ihre leerstehenden Geschäftslokale zu vermieten, weil die dafür anfallenden Betriebskosten ohnehin auf alle anderen Mieter umgelegt werden können.
Trotzdem: manchmal fehlt es auch nur an jemandem, der dem oder der EigentümerIn ein ganz konkretes Angebot macht – einige EigentümerInnen scheuen einfach den Aufwand, hier selbst tätig zu werden. Viele können sich auch nicht vorstellen, wie sehr eine sinnvolle Nutzung ihr Haus aufwerten würde. Und Informationen über die steuerliche Absetzbarkeit der Sanierungskosten würden wohl auch helfen – vielleicht schaffe ich es, eine Steuerberaterin zu einem entsprechenden Blogbeitrag zu motivieren und hier etwas Licht ins Dunkel zu bringen.
Was das Finden von Gassenlokalen betrifft: es gibt für Wien eine Datenbank mit leerstehenden Geschäftslokalen: http://www.freielokale.at
Was Sanierungskosten betrifft: auch die Stadt Wien hat berechtigtes Interesse, die Erdgeschoßzone zu stärken. Unter gewissen Voraussetzungen fördert daher die Wirtschaftsagentur Wien die Wiederbelebung leerstehender Geschäftslokale: http://www.wirtschaftsagentur.at
Näheres können wir gern einmal im Detail erörtern – das würde den Rahmen des Kommentars doch sprengen.